Sozialer Brennpunkt.
Wie Can und Samer es aus dem Getto schafften.
Billstedt gilt als Hamburger Problemviertel. Zwei Jungs haben es mit Basketball und Hip-Hop nach oben geschafft. Jetzt ermutigen sie hier andere. Ihr Credo: „Hängt euch rein!“
Eine Multimedia-Reportage von Heike Klovert und Christina Pohl
Das Video gibt es HIER auf spiegel.de (Samer Ismailat ist ab Minute 3:20 zu sehen)
Can Gülec sagt, es fühlt sich an wie ein Stempel auf der Stirn: Billstedt. Getto. Loser. Der 26-jährige Hip-Hop-Tänzer ist in dem Hamburger Stadtteil geboren. Er sagt: Wer es aus Billstedt rausschaffen will, muss sich doppelt reinhängen.
Billstedt, Killstedt, so nannte eine Tageszeitung das Viertel mal gehässig. Jeder Fünfte bekommt Sozialgeld. Jede vierte Wohnung ist eine Sozialwohnung. Dass es auf St. Pauli dreimal so kriminell ist und dass die Zahl der Verbrechen in Billstedt seit zwei Jahren sinkt, ist fast egal. Das Image stirbt spät.
Can Gülec hat es rausgeschafft aus Billstedt. Trotzdem kehrt der Deutschtürke oft dorthin zurück. Er arbeitet als Tanzlehrer an der angesehenen Hip Hop Academy in Billstedt und studiert nebenbei. Can ist ein Vorbild für Jugendliche, die jetzt in Gettos aufwachsen.
So wie auch Samer Ismailat. Der 33-jährige Libanese mit deutschem Pass war früher Basketballprofi. Jetzt engagiert er sich für Jugendliche in Billstedt. Er will möglichst viele rausziehen aus dem Getto, an den Haaren, an den Händen, am Verstand.
Die Geschichten von Can und Samer haben viel gemeinsam. Doch sie haben verschiedene Wege gefunden, um aus Brennpunktvierteln wie Billstedt herauszukommen.
Der eine möchte aufstacheln, der andere setzt auf Lob und Harmonie. SPIEGEL TV REPORTAGE (Mittwoch, 10.8., 23.20 Uhr, Sat.1) und SPIEGEL ONLINE haben sie begleitet.
Als Samer Ismailat fünf Jahre alt war, herrschte im Libanon Krieg. Er lebte in Beirut, und monatelang ging er jeden Tag zu dem Soldaten an der Kreuzung gegenüber und fragte ihn, ob er mal sein Gewehr halten dürfe. Bis der Soldat ihm das Gewehr gab. Es war sehr schwer.
Als Samer Ismailat sechs Jahre alt war, floh die Familie nach Deutschland. Nach Osteel, Landkreis Aurich, Ostfriesland. Der Lehrer haute dem Jungen mit dem Lineal auf die Finger. „Das hat ja gar nicht wehgetan“, erinnert sich Samer.
Samer und seine vier Brüder spielten zusammen Basketball im MTV Aurich. Samer hatte den Hallenschlüssel, er trainierte jeden Tag, auch an Silvester. Sein Vater hatte gesagt: Mit Willensstärke kannst du alles erreichen.
Fast alles. Es dauerte 18 Jahre, bis Samer den deutschen Pass bekam. „Du darfst nicht kriminell werden, hieß es. Du musst eine Schulausbildung haben, hieß es. Das haben wir alles geschafft“, sagt Samer. „Doch es hat nicht gereicht.“
Letztlich tat es ein Anruf. Der Vater einer Freundin kannte jemanden, der Einfluss aufs Asylverfahren nahm. „Mein Vater hat immer gesagt: Wenn du viele Leute kennst, kann dir nichts passieren“, sagt Samer. Er hatte recht.
Samer ist groß und muskulös, er steht gern breitbeinig, redet laut und eins seiner Lieblingswörter ist „plattmachen“.
Seit vier Jahren fährt er etwa einmal im Monat ehrenamtlich und auf eigene Faust zum Billstieg. Das ist eine Siedlung in Billstedt, eingekreist von Bundesstraße 5, Gewerbegebiet und dem Fluss Bille. Vor den braunen Wohnblocks stehen Sperrmüllsofas, an den Balkonen hängen Satellitenschüsseln, der Bus kommt nur einmal in der Stunde.
620 Menschen haben hier Platz, sagt die Verwaltung. 800 wohnen hier, sagt ein Sozialarbeiter. Sie kommen aus dem früheren Jugoslawien, aus Afghanistan, nun auch viele aus Syrien.
Wenn Samer herkommt, trommelt er die Kinder und Jugendlichen vom Billstieg zusammen. Dann läuft er mit ihnen ein paar Meter zu einer nahen Unterführung. Dort rappen sie, werfen ein paar Bälle, schnacken, hängen ab.
Viktor, 11, wächst im Billstieg auf, so wie der 13-jährige Zoran, Shaban, acht Jahre alt, und Avhdulahu, 12. Es hat gedauert, bis sie Samer akzeptierten. Am Anfang zogen sie ihm noch das Handy aus der Tasche, bis es ihm zu blöd wurde hinterherzulaufen. Aber er gab die Kids nie auf, das spüren sie.
Die Unterführung hat gekachelte Wände, an denen schmutzige Neonröhren leuchten, oben rauschen die Autos auf der B5. Hier bringt Samer den Jungs das Rappen bei. Gute Raps. Mit Texten, die niemanden erniedrigen. Er bringt ihnen bei, es miteinander auszuhalten, ohne einander zu schlagen. Er ist dabei oft ruppig mit ihnen. Anders kommt er nicht durch.
Samer besucht die Jungs vom Billstieg, weil er weiß, wie schnell aus Hilf- und Ziellosigkeit Hass entsteht. „Ich will ihnen zeigen: Ihr könnt was erreichen, wenn ihr nur dranbleibt“, sagt er.
Nach der Schule spielte sich Samer in die Erste Basketballliga des Libanons hoch. Mit 27 Jahren wurde er Assistenztrainer beim FC Barcelona. Doch das habe ihm nicht gereicht, sagt er. Samer zog nach Hamburg und gründete seinen eigenen Verein, die St. Pauli Bats. „Lieber erster Trainer bei den Bats als zweiter Trainer bei Barcelona“, sagt er.
Er will die Bats groß machen, das Konzept für eine Profi-Mannschaft steht, das Selbstbewusstsein hat er auch, nur das Geld fehlt noch. Vielleicht kennt ja jemand wen, der jemanden kennt.
Nebenbei trainiert er erenamtlich Kinder aus Billstedt, Duvenstedt und anderen Stadtteilen. Er organisiert am Wochenende Basketball-Camps für sie, um ihnen zu zeigen: „Man kann den Gegner auch mit einem Ball plattmachen.“ Und wer am besten spielt, gewinnt, egal woher er kommt.
Es ist harte Arbeit, denn mit Disziplin, Toleranz und Fitness haben die Jungs nicht viel am Hut.Samer ist wütend darüber, dass die Politiker nicht genug tun für die Jugendlichen in Billstedt. Samer will die Jugendlichen aufstacheln. Gegen die Mächtigen, denen es nur um Rohstoffe gehe und nicht um die Menschen. Und gegen die Salafisten, die den Islam missbrauchen, um mehr Hass zu säen.
„Wenn wir uns zusammentun würden,“, sagt Samer, „dann könnten wir uns alle vor den Bundestag stellen. Dann hätten die da oben nichts mehr zu sagen. Dann hätte das Volk endlich die Macht.“ Es klingt wie die Zeilen aus seinem nächsten Rap.